Bewertung 5/6 Pommesgabeln
Genre Progressive Metal
Label Noizgate
Releasedatum 26. Juni 2015
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Doc hört: Grey Season - Invidia

3. Juli 2015, 20:05 - review, noizgate-records, grey-season - geposted von DocDesastro

Hallo, werte Schergen. Der Postbote war bei Doc und hat eine weitere Scheibe der Band Grey Season hinterlassen. Von dieser Band hatten wir schon mal etwas - nämlich einen Silberling, der auf den Namen Septem hört. Das Review dazu könnt ihr hier lesen. Wenn ich da mal auf den Zeitstempel gucke, sehe ich, dass das von Oktober 2014 war. Weniger als ein Jahr für ein zweites. Album. Da Septem allerdings 'nur' ein Re-Release war - die Dormagener hatten ihr Debüt damals selber pressen lassen - müssen wir hier nicht mit Musik vom Fließband rechnen.

Grey Season stehen für progressiven Metal. Dabei dominiert der Metal und wird vermählt mit industrialen Klängen sowie Dingen, die den späten 70ern oder dem Blues entlehnt worden sind. Das ist schon beachtlich, da momentan immer noch der Trend im Metal zu herrschen scheint, dass man an alles das Wörtchen 'Core' hängen muss (naja), um frisch und neu zu sein - oder man besinnt sich auf alte Werte und versucht, klanglich den Wurzeln des Metal so nahe wie möglich zu kommen. Während ich letzteres für keine schlechte, wenn auch gleich nicht sonderlich innovative Idee halte ist das erstere, dieses schneller...lauter...härter mittlerweile einfach nur nervig geworden. Werdet mal so alt wie ich, dann lernt ihr euer Gehör zu schätzen und freut euch über Melodien, die man als solche erkennen kann und nennt den Vocalisten erst dann so, wenn ihr versteht, was er singt.

Aber ich schweife ab.

Bei der Gelegenheit: verwechselt diese Band nicht mit der Band Grey Season aus Boston, MA - die machen Rock'n'Roll.

Zur Band gibt es eine Facebookpräsenz, eine Homepage sowie das obligatorische Hörbeispiel

Schaun wir also mal unter die Haube des Silberlings


Review:

Also erstmal fällt auf, dass die Scheibe mit einer Gesamtspielzeit von mehr als einer Stunde bei 10 Tracks sehr lang ist, also durchschnittlich 6 Minuten pro Track. Das ist für Otto-Normalhörer schon recht lang, da die Airtime eines Songs im Radio meist bei ca. 3 Minuten liegt. Für Proggies ist dies allerdings der normale Rahmen und ich habe schon Alben erlebt, wo die Band 30 Minuten an einem Song rumfrickelt. Das macht allerdings das Review nicht leichter, vor allem wenn Stilwechsel dazukommen. Ich werde mich auch etwas intensiver mit den Texten auseinander setzen und schauen, ob die Melodie die Thematik trifft.

Das Buch hat optisch eine starke Insekten-Thematik. Damit verbinden die meisten Menschen eher etwas abstoßendes, aber auch unbedeutendes. Es würde sich ja anbieten, das ganze als Synonym für die Menschheit zu sehen. Wir sind unbedeutend und abstoßend. Mal sehen, ob ich Recht habe...

Track 1 nennt sich Inferiors, also die Minderwertigen. Das Booklet zeigt uns eine Chimäre aus diversen Insekten und eine Prise Skorpion ist auch dabei. Also ein widernatürliches Wesen.
Depressiv und schleppend beginnt der Song, einem Begräbnismarsch gleich und unser Sänger brüllt sich die Situation der Menschheit von der Seele - wir sind gezwungen und kontrolliert. Kurz darauf nach 4 Zeilen ein Wechsel des Tempos und des Rhythmus - Perspektivenwechsel. Wenn wir kontrolliert werden, gibt es einen Kontrolleur. Richtig, man besingt (boshaftig) schlaue Augen, voller Lügen. Kann man aber auch auf den Menschen selber beziehen. Der eigentlich intelligente Mensch durch Lügen geblendet und durch eine nicht näher definierte Person vergewaltigt. Verurteilt, wie eine Laborratte alles über sich ergehen zu lassen, was sich diese böswillige Entität einfallen lässt. Ein in Ketten gelegter Wolf, der nach allem schnappt, was ihm sein Meister befiehlt. Kurz darauf die musikalische Schlussfolgerung: Wir sind wertlos.
Der Refrain bringt es auf den Punkt: vorwärts, alle in einer Reihe. Unser Fortschritt wird uns zugrunde richten. Darauf folgt ein musikalischer Cut. Seichte Pianotöne nehmen die Aggression aus dem Song und lassen uns durchatmen...oder sind sie nur die katatonischen Pausen zwischen dem musikalischen Tobsuchtsanfall?
Apokalypse voraus, weitergehen. Das erschreckende ist, dass das Ende erstrebenswerter erscheint, als der Ist-Zustand.
Musikalisch besticht der Song durch interessante Themen und Geschwindigkeitswechsel.

Das war schon mal harte Kost, oder? Aber faszinierend umgesetzt.
Etwas munterer kommt da Track 2 - Reflections daher. Zumindest von der Geschwindigkeit her. Der Song hat etwas manisches an sich. Der Sänger scheint gefangen in seinem Selbst und unfähig, sich selber zu finden. Nichts scheint Bestand zu haben, das Ich verkommt zum Echo, einer verhallenden Kopie von....irgendwas. Aber wo ist das Original?
Musikalisch ist der Song gut umgesetzt. Für meinen persönlichen Geschmack brüllt der Sänger zuviel. Ich weiß nicht, ob man hier mit cleanem Gesang mehr hätte punkten können. Andererseits - die Thematik des Songs ist ja zum schreien - also wird es hier passen.

Mit Reclusive Years geht es weiter. Den Text musste ich mir mehrmals durchlesen. Unser Sänger - jetzt unterstützt mit Halleffekten - brüllt sich einen unglaublichen Schmerz von der Seele. Jemand hat das lyrische Ich gebrochen, verletzt und vergiftet, sodass es ferner unfähig scheint, lebensspendenende Dinge wie die Sonne oder das Wasser als solche zu erkennen. Die Existenz ist stumpf geworden, süchtig nach dem, das es verletzt hat. Das kann als Metapher für alles mögliche dienen, z.B. eine gescheiterte Beziehung. Das Resultat ist allerdings das gleiche: eine innerlich tote Existenz.

Musikalisch besteht der Song grob aus zwei Teilen. Interessant ist die Art, in der gesungen wird. Silbe für Silbe wird im ersten Teil zur Zeile. Die Emotion trägt die Botschaft. Und die Botschaft ist Schmerz. Ein seichtes Gitarrenstück in der Mitte trennt das Lied in zwei Stücke. Die zweite Hälfte des Songs klingt bedrohlicher, aber auch weniger schmerzhaft, eher abgestumpft. Das lyrische Ich hat aufgegeben. Zum Schluss steht noch ca. 1 Minute instrumentale Musik als Abklang. Ein komplexes Lied mit viel Spielraum zur Interpretation.

Maere heißt das nächste Lied. Zugegeben, den Text konnte man fast gar nicht lesen, so dunkel erscheint er auf schwarzem Papier. Auch der Titel gibt wenig Aufschluss. Maere - dazu habe ich nur zwei wesentliche Bedeutungen auf Lager. Einmal bedeutet es einfach Erzählung, also mittelhochdeutsch für eine Mär. Das andere wäre eine Anspielung auf ein Horror-Computerspiel. Ich denke mal, ersteres ist gemeint. Doch worum geht es bei dieser Mär? Viel Text offeriert uns der Song nicht, dafür ist alles melancholisch. Keine Härte, dafür sanfte Töne von Gitarre und Klavier. Alles wirkt sphärisch und vermittelt eine Art Todes- oder Abschiedsromantik. Bei Kerzenschein vermittelt dieses Lied Gänsehaut.

Werden wir also nun missgünstig. Invidia, der Song, nachdem die Scheibe benannt ist, folgt. Es wird energischer. Der Song schraubt sich immer weiter voran und der Gesang wird innerhalb einer Strophe immer härter. Thematisch könnte man alles zusammenfassen zu folgender Gleichung:
Das lyrische Ich hasst alle Menschen. Einige, weil sie böse sind und die anderen, weil sie wegschauen und dieses Böse dulden. Würde die Menschheit gegen das Böse aufbegehren, gäbe es ja keinen Grund mehr, misanthrop zu sein. Aber dazu sind wir zu hedonistisch. Solange es uns gut genug geht, sehen wir mal über kleinere und größere Übel hinweg.
Der Song selber ist sehr abwechslungsreich und interessant gehalten.

Interessant wird es mit dem nächsten Song - Captain Trips. Erstmal fiel mir im Booklet auf, dass das 'Insekt' was links neben dem Text erscheint, gar keins ist, sondern eine genial verzerrte Illusion ist. Es ist eigentlich eine Frau oder besser, eine Fee.
Der Titel selber verweist auf zwei Interpretationsmöglichkeiten: Einmal ist damit ein tödliches Virus gemeint, das in Steven Kings The Stand die Menschheit ausradiert oder das verkaterte Aufwachen nach Konsum von zuviel Drogen. Naja, wenn ich mir den Text so anschaue, ist wohl ersteres gemeint. Der Mensch hat an etwas rumgebastelt, was Heilung und Fortschritt bringen sollte, aber statt dessen kam nur Tod und Verderben. Ich denke, das ist ein Seitenhieb in die moderne Genetik.
Auch hier wurde ein komplexes Thema musikalisch gut umgesetzt. Wenn man sich mal die Zeit nimmt, fordert die Band auf, mal nachzulesen und nach dem Puzzleteil zu suchen, das einen die Texte erschließen lässt.

Schauen wir uns mal den nächsten Song an: Pandemic Winter
Auch hier wird desolate Thematik gesungen. Die Menschheit zerstört sich selber und die Zukunft ist trostlos. Zum Song selber kann ich nur sagen, dass er etwas monotones, fast drohnenhaftes hat. Das Booklet zeigt eine schwarz-weiß Aufnahme der Stadt Prypjat - richtig, die Geisterstadt, die nach dem Unfall von Tschernobyl entstand. Ein Hinweis auf die Katastrophe, die der Menschheit droht?

Red Forest heißt Track 8 der Scheibe.
Was ist das eigentlich? Nun, der Red Forest ist ein Waldgebiet bei Tschernobyl. Eigentlich eines der radioaktiv verseuchtesten Gebiete der Welt. Der Wald ist so stark verstrahlt worden, dass die Bäume starben und sich rot verfärbten. Mittlerweile wurde alles gerodet, vergraben und das Land wieder aufgeforstet. Dennoch lebt hier außer Forschern kein Mensch. Seltsamerweise haben sich hier bedrohte Tierarten angesiedelt.
Es scheint, als müsste erst die Krankheit Mensch weichen, damit die Natur wieder Wurzeln schlagen kann. Der Mensch - schlimmer als totale radioaktive Verseuchung? Yep. Das ist mal ne Ansage. Und doch liegt Schönheit in der Zerstörung.
Musikalisch geht es ebenfalls in die selbe Richtung. Der Song wird immer leiser und ruhiger. Wenn man sich mit dem Thema befasst hat, echt gut.

Der vorletzte Song lautet Black Seas of Infinity
Ein Song voller Melancholie, Verlust und Episoden gesungenen Wahnsinns zwischen Abschnitten von nüchterner Klarheit. Hier kann ich nicht viel zu sagen - den Song muss man selber erleben. Vielschichtig, mitreißend und emotional. So könnte man es zusammenfassen.

Den Abschluss macht der Song Venenum. Zu diesem findet sich kein Text, sondern nur das Bild einer Bierflasche mit leckerem Inhalt. Der Song ist eigentlich 'nur' ein instrumentaler Abspann am Piano. Nichtsdestotrotz gut gelungen.


Tracks:

  1. Inferiors [7:50]
  2. Reflections [4:18]
  3. Reclusive Years [6:46]
  4. Maere [3:41]
  5. Invidia [7:26]
  6. Captain Trips [2:56]
  7. Pandemic Winter [6:30]
  8. Red Forest [8:13]
  9. Black Seas of Infinity [12:29]
  10. Venenum [2:08]

Gesamtspielzeit: 1:02:17


Line-Up:

  • Roman Gatzka (Gitarre)
  • Blazej Lominski (Gesang)
  • Bodo Strauß (Bass)
  • Jan Schweigler (Schlagzeug)
  • Pascal Horn (Keyboard)

Thomas Sladek – Recording
Max Görlitz – Artwork, Fotografie
Erik Krüger – Tourmanager/ Supporter


Fazit:

Fazit...tja ein Fazit. Da tu ich mich wirklich schwer hier. Zur Beschallung im Auto oder auf der Party taugt die Scheibe absolut nichts - aber ich denke mal, das war auch nicht die Intention. Andere Interpreten machen es einem da leichter. Eine klare Linie, ein 'klingt wie XY', 1-2 Hits pro Silberling und fertig. Dieses Album erfordert vom Zuhörer eines: Arbeit. Lest zwischen den Zeilen, schlagt die Anspielungen nach und dann hört noch mal hin. Dann erschließt sich erst das Album. Ich würde dem Album eher das Prädikat 'künstlerisch wertvoll' denn 'unterhaltsam' verpassen. Es lohnt sich definitiv. Wenn ich musikalisch was zu meckern habe, dann nur folgendes: Mehr cleanen Gesang, bitte. Sonst war das super. Ein ganz großes Lob an den Mann am Klavier, das kam sehr gut.

Für Liebhaber dieser Spielart von Musik...

... gibt es auf jeden Fall 5 von 6 Pommesgabeln!

Freunde seichter Unterhaltung allerdings, seid gewarnt!